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Vom Klassenkampf zum Wettbewerbskorporatismus
24.02.2013 | 10:13 Uhr

Vom Klassenkampf zum WettbewerbskorporatismusDie Große Transformation der Gewerkschaften

Von Frank Deppe (Foto)

Die politischen Klassenorganisationen, also die proletarischen Parteien, sind im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts entweder in eine tiefe Krise geraten oder haben sich faktisch aufgelöst (so die einst großen kommunistischen Parteien in Frankreich und Italien). Die sozialdemokratischen Parteien, die noch immer eine gewisse Bindung zumindest an die Wähler aus der Arbeiterklasse bewahrt haben, verwandelten sich dagegen in Agenturen des marktradikalen Neoliberalismus (New Labour, Blair-Schröder-Papier).
Gewerkschaften waren und sind dagegen kaum in der Lage, an Stelle der politischen Organisationen gleichsam autonom im politischen Raum zu wirken. In der Regel reflektiert die Struktur der Gewerkschaften als Richtungsund/ oder Berufs- und Branchenverbänden vielmehr auch die politische und professionelle Fragmentierung der Lohnarbeiter-Interessen. In der Bundesrepublik Deutschland war der Neuaufbau der Gewerkschaften nach Faschismus und Krieg durch die Entscheidung für die Einheitsgewerkschaft und den Zusammenschluss von Industrieverbänden unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) geprägt. Da mit der Gründung des DGB zugleich die Finanzhoheit und die Zuständigkeit für die Tarifpolitik bei den Einzelgewerkschaften verblieb, war dieser von Anfang an schwach – obwohl es Perioden gab, etwa in den Auseinandersetzungen um Mitbestimmung und Betriebsverfassung Anfang der 50er Jahre sowie in den Auseinandersetzungen um gesellschaftspolitische Reformen in den 70er Jahren, in denen der DGB und seine Vorsitzenden in der Öffentlichkeit als Repräsentanten der gesamten Gewerkschaftsbewegung anerkannt waren. Die Macht innerhalb des DGB konzentrierte sich jedoch immer (und immer mehr) bei den großen Einzelgewerkschaften. Seit Anfang der 90er Jahre ist der DGB allerdings zusätzlich – in seiner Organisationsstruktur, seinen finanziellen Ressourcen und in seinem politischen Gewicht – systematisch demontiert worden. Kritiker dieser Entwick- lung, die sich für eine politische Stärkung des DGB eingesetzt haben, halten inzwischen den „Weg des DGB zu einem Briefkopf-DGB mit angeschlossener Rechtsabteilung [...] für ebenso vorgezeichnet wie weitere Zusammenschlüsse der Gewerkschaftsbünde”, die – paradoxerweise – wiederum in einer „allgemein Gewerkschaft” enden könnten.
Die DGB-Gewerkschaften verloren in der neoliberalen Epoche jedoch ebenfalls an Macht und Einfluss. So galt die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) mit ihrem Vorsitzenden Heinz Kluncker bis in die 80er Jahre als eine äußerst kampfstarke Organisation; denn sie war – bei Tarifauseinandersetzungen und bei Arbeitskämpfen – in der Lage, durch Streiks der Müllwerker oder der Fahrer von Straßenbahnen und Bussen schnell einen großen Druck auf die kommunalen Arbeitgeber zu erzeugen. Inzwischen sind fast alle Städte und Gemeinden dazu übergegangen, die Müllabfuhr sowie Teile des ÖPNV ganz oder teilweise auszulagern und zu privatisieren. Die Gewerkschaft Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi), die bei diesen privaten Firmen längst nicht über die gleiche Organisationsmacht verfügt wie früher die ÖTV bei den kommunalen Stadtwerken und Verkehrsbetrieben, kann daher bei den zahlreichen Streiks, die sie in der jüngsten Zeit auszufechten hatte, nur noch begrenzt auf diese „alte Waffe” zurückgreifen. Gleichzeitig wird gerade den deutschen Gewerkschaften attestiert, dass sie sich angesichts der neuen Herausforderungen durch die neue „Große Transformation“ (Karl Polanyi) und vor allem durch die deutsche Einigung noch relativ erfolgreich behauptet haben. Dabei wird insbesondere die Stabilität der Institutionen des Systems der industriellen Beziehungen mit dem Kern des Tarifvertragssystems, des Betriebsverfassungs- sowie des Mitbestimmungsgesetzes hervorgehoben.
Auch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) veränderte sich in der Ära der Kanzlerschaft von Helmut Kohl und seiner konservativ-liberalen Regierung zwischen 1982 und 1998 keineswegs dramatisch, sondern verfolgte weiterhin eine Linie des sozialen Kompromisses zwischen den Klassen. Das heißt: die rechtlichinstitutionellen Sicherungen gewerkschaftlicher Macht durch das Betriebsverfassungsgesetz und die Rolle der Betriebsräte wurden nicht in Frage gestellt, während gleichzeitig andere Machtressourcen der Gewerkschaften, ihre organisatorische sowie ihre strukturell-ökonomische Macht, deutlich eingeschränkt wurden. Damit erfuhren die Betriebsräte für die Politik und das Selbstverständnis der Gewerkschaften („Verbetrieblichung”) eine Aufwertung. Letztere wurden, bei Abwertung der Tarifpolitik und als Folge des zunehmenden Ver- zichtes auf Kapitalismuskritik, mehr und mehr in eine Abhängigkeit von bzw. in eine Junior-Rolle zu den Unternehmensleitungen gebracht, die ihre Strategien mit Hinweis auf die globalen Konkurrenzverhältnisse begründen und dabei die Kooperationsbereitschaft der betrieblichen Interessenvertretungen und der Gewerkschaften erwarten („Wettbewerbskorporatismus“). So wurde beispielsweise der im Jahre 2011 ausgeschiedene (Gesamt- und Euro-) Betriebsratsvorsitzende (aber auch: stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende) von Opel/Rüsselsheim, Klaus Franz, als mächtiger Krisen- und Co-Manager mit eigenen Vorschlägen für Personalabbau, Werksschließungen, Kostenreduzierungen – anders wahrgenommen: als „Retter” von Opel und von Arbeitsplätzen seiner Kollegen – berühmt. Er kam Mitte der 70er Jahre als maoistischer Revolutionär in den Betrieb; wie so viele Ex-Revolutionäre sympathisiert er mit den Grünen. Letztlich müssen die Kollegen bei Opel immer wieder die Erfahrung machen, dass das Management von General Motors in Detroit/USA auf der Basis der Umsatzzahlen und des Profits, aber auch im Rahmen der Globalstrategie des Unternehmens entscheidet. Die Verbetrieblichung der Gewerkschaftspolitik Die Rolle von Klaus Franz macht die ganze Ambivalenz der Politik des Co- Managements deutlich: Die Kollegen im Betrieb hoffen, ihre Arbeitsplätze zu erhalten; sie sind bereit, dafür Zugeständnisse beim Lohn, bei der Arbeitszeit, bei der Arbeitsintensität zu machen, um die Kosten zu reduzieren. Sie nehmen es auch hin, dass Betriebe an anderen Orten (etwa in Antwerpen oder in Bochum) von massiven Entlassungen betroffen oder ganz geschlossen werden. Innerhalb der IG Metall spielt ein mächtiger Betriebsrat wie Klaus Franz eine eher konservative Rolle – die in der Presse freilich als Politik eines verantwortungsvollen „Modernisierers” gelobt wird –, die sich immer auch gegen die Linke in der eigenen Organisation abgrenzt. Die Tragik dieser Politik besteht darin, dass sie punktuell Erfolge zu erzielen vermag und die Kollegen im Betrieb zeitweilig vor Entlassungen und vor dem sozialen Abstieg schützt, aber im Ergebnis der Macht des Konzerns unterlegen ist und die Schwächung der Gewerkschaften nicht aufzuhalten vermag, sondern diese noch verstärkt, weil sie sich in letzter Instanz vom Wohlwollen der Unternehmensleitungen abhängig gemacht hat. Starke Gewerkschaften, repräsentiert durch starke (Gesamt-)Betriebsräte, können so auf Gratifikationen durch die Kapitalseite bzw. durch den Staat rechnen. Dennoch ist auch diese Beziehung von der sozialökonomischen Entwicklung abhängig; sie wird vor allem in Krisenperioden auf eine harte Probe gestellt. Der Tausch funktioniert nur, solange der Co-Manager dafür sorgt, dass in der Belegschaft die radikalen Tendenzen unter Kontrolle gehalten werden. Der Soziologe Thomas Haipeter hat die Gesamttendenz dieses Wandels sehr gut zusammengefasst: „Das deutsche System der industriellen Beziehungen, bis in die 1990er Jahre hinein ein stabiler und wandlungsfähiger
Eckpfeiler der deutschen ‚koordinierten Marktökonomie‘, ist seit über einem Jahrzehnt von Erosionstendenzen gezeichnet. Flächentarifverträge und Mitbestimmung der Betriebsräte haben einen Bedeutungsverlust erlitten oder zumindest einen nachhaltigen Bedeutungswandel erfahren. Die Organisationskraft der Arbeitsmarktverbände erlahmt zusehends. Die Reichweite der Flächentarifverträge nimmt ab. Tarifliche Öffnungsklauseln ermöglichen Abweichungen von den tarifvertraglichen Mindestnormen. Betriebsräte geraten unter Konzessionsdruck in betrieblichen Bündnissen. Und schließlich wird der Zusammenhalt der Arbeitsnormen zwischen den Branchen schwächer, so dass Tarifkonkurrenz gefördert wird.”
Reinhard Bispinck vom WSI des DGB bezeichnet die Jahre zwischen 2001 und 2011 daher tarifpolitisch als ein „verlorenes Jahrzehnt”: die Tarifeinkommen sind in dieser Periode um jahresdurchschnittlich 0,6 Prozent gestiegen; „die tatsächlich gezahlten Bruttomonatsverdienste je Arbeitnehmer sind dagegen [...] real um 2,9 Prozent gesunken, [...] die Tarifabschlüsse hatten also nur eine begrenzte Wirkung auf die Effektivverdienste. Insgesamt hat sich die Schere zwischen den Gewinn- und Vermögenseinkommen und den Arbeitseinkommen weit geöffnet”.
Exportindustrie versus Dienstleistungssektor
Bei genauer Betrachtung ergibt sich ein äußerst differenziertes Bild. Während im Bereich der exportorientierten Industrien die Position der Gewerkschaften nach wie vor stark ist und dort auch im „Kerngeschäft” der Tarifpolitik immer wieder Ergebnisse erzielt werden, die die Beschäftigten und auch die Gewerkschaftsmitglieder eher zufriedenstellen (während sie von linken Ökonomen als unzureichend kritisiert werden), bleiben die Ergebnisse in anderen Bereichen wie dem Bausektor oder dem Hotel- und Gaststättengewerbe und vor allem in denjenigen Dienstleistungssektoren, in denen die Gewerkschaft schwach ist, deutlich zurück. Im Bereich des öffentlichen Dienstes führen schließlich die Politik der „Entstaatlichung” sowie der Primat des Schuldenabbaus dazu, dass die Tarifpolitik von Verdi (damit auch von GEW, GdP) auf enormen Widerstand stößt. Im Ergebnis bleiben die Einkommen der Staatsbediensteten immer deutlicher hinter den Einkommen der Beschäftigten beispielsweise der metallverarbeitenden und Elektro- Industrie zurück. Die punktuelle Stärke korrespondiert also mit jenen sich ausbreitenden „weißen Flecken” in der betriebs- und tarifpolitischen, aber auch in der sozialpolitischen Landschaft, also der Verteilung der Arbeitslosen und Hartz-IV-Bezieher vor allem im Osten der Republik, aber auch mehr und mehr in den altindustriellen Krisenregionen im Westen. Hier spie- len gewerkschaftliche Organisation und Interessenvertretung entweder überhaupt keine Rolle oder sie agieren aus einer Position der Defensive. Mit anderen Worten: Die betriebliche und sektorale Stärke widerspricht nicht der zunehmenden Erosion gewerkschaftlicher Macht auf der gesamtökonomischen, -gesellschaftlichen und -politischen Ebene. Daraus ergeben sich verzerrte Wahrnehmungen, die ihrerseits mit weiter auseinanderdriftenden Handlungsbedingungen im exportorientierten Industriesektor und im Bereich der öffentlichen und privaten Dienstleistungen – in dem wiederum enorme Einkommensdifferenzierungen und Lohnspreizungen bestehen – korrespondieren. Allerdings haben sich auch in den Bereichen und Betrieben mit einer noch relativ starken Gewerkschaftspräsenz tiefgreifende Veränderungen vollzogen: Die Verbetrieblichung beinhaltet nicht allein die Aufwertung der Betriebsräte und deren Einbeziehung in „Standortpakte” mit dem Management, sondern auch die Aufweichung tarifvertraglicher Regelungen durch Öffnungsklauseln, die ihrerseits betriebliche Einzelregelungen, dabei auch das Unterschreiten der vereinbarten Normen etwa bei Löhnen und Arbeitszeit, ermöglichen. Die „Flexibilisierung der Arbeitszeitregulierung” gilt heute in der metallverarbeitenden und Automobilindustrie „als einer der wichtigsten Konkurrenzvorteile deutscher Produktionsstandorte”.
Die sogenannte „Pforzheimer Tarifvereinbarung”, die die IG Metall Baden-Württemberg im Jahre 2004 vereinbarte, hatte den „Anwendungsbereich der kontrollierten Dezentralisierung auf alle Fälle erweitert, in denen die Sicherung und der Aufbau von Beschäftigung sowie die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit und der Investitions- und Innovationsbedingungen behandelt werden”. Die Schwäche auch der IG Metall kommt besonders dann zum Ausdruck, wenn „in den Unternehmen Mitglieder und Betriebsräte gemeinsam mit den Betriebsleitungen für Unterschreitungen der Flächentarifvertragsnormen im Sinne einer ‚wilden Kooperation’ plädieren”. Schließlich ist inzwischen auch bei den sogenannten Stammbelegschaften der Glaube erschüttert, dass ihre Arbeitsplätze auf jeden Fall krisensicher seien. Die Fragmentierung sozialer Erfahrung Die Fragmentierung sozialer Erfahrung sowie die unterschiedlichen Arbeitserfahrungen zwischen verschiedenen Fraktionen der Arbeiterklasse sind nicht ungewöhnlich. Die „Einheit der Klasse” über die fraktionellen, aber auch individuellen oder regionalen Sonderinteressen hinweg konstituiert sich dagegen in politischen Prozessen, in denen die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen in den Auseinandersetzungen um Verteilungsfragen oder auch um den Bestand der Demokratie allgemeine Klasseninteressen anzurufen und zu mobilisieren verstehen. In solchen Perioden – beispielsweise des Kampfes gegen den Faschismus oder des Krieges gewinnt die Formel von der „Einheitsfront” der Klasse oder auch der „Volksfront” eigene politische Kraft. In der Periode der Großen Transformation hingegen vollzieht sich eine Erosion der für den Fordismus charakteristischen Struktur der Arbeiterklasse; gleichzeitig vollzieht sich eine Neuzusammensetzung der Klasse, bei der die Unterschiede zwischen den großen Wirtschaftssektoren (Industrie und Dienstleistungen) größer werden, aber gleichzeitig sich die innere Hierarchisierung extrem ausgeweitet hat – zwischen den Oberschichten der Arbeiterklasse, die sich als Angehörige der Mittelschichten empfinden, und den neuen Unterschichten des Prekariats mit einem hohen Anteil von Migrantinnen und Migranten sowie der Armutsghettos. Die mit diesen Veränderungen verbundene Erosion gewerkschaftlicher Macht reflektiert sich auch in der Streikstatistik. In fast allen entwickelten kapitalistischen Staaten sind die Häufigkeit, die Intensität sowie die Beteiligung an Streiks seit den 70er Jahren kontinuierlich zurückgegangen – vor allem in den Staaten, in denen in den 70er Jahren (und schon vorher) am häufigsten gestreikt wurde (Frankreich, Italien, Spanien, Großbritannien). Deutschland hingegen gehört mit Japan, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz zu denjenigen Ländern, in denen vor allem seit dem Jahr 2000 Volumen und Häufigkeit von Streiks – nach der offiziellen Statistik – noch einmal deutlich nachgelassen haben. Kelly und Hamann haben zwischen 2000 und 2008 38 Generalstreiks in Europa ermittelt, wobei Griechenland das Land mit der häufigsten Anzahl ist – neben Italien, Frankreich, Belgien und Spanien; Deutschland gehört hingegen mit Dänemark, Finnland, Irland, Schweden und Großbritannien zu den Ländern, in denen in diesem Zeitraum kein Generalstreik stattfand.
Bei solchen Vergleichen muss freilich berücksichtigt werden, dass in Deutschland aufgrund der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes und auch der Vereinbarungen der Tarifparteien – wie beispielsweise Schlichtungsabkommen – der Streik nur als letztes Mittel (ultima ratio) anerkannt ist. Tatsächlich ist aber die Zahl der Streiks und der Streikenden, also der sogenannten Wilden Streiks, wesentlich höher.
Zugleich hat sich die Streikaktivität von der Metallindustrie (und der IG Metall) seit 2000 immer mehr in den Dienstleistungsbereich verlagert, so dass von einer „Tertiarisierung des Arbeitskampfes” gesprochen werden kann.10 Die zunehmende Zersplitterung der Tariflandschaft, Tarifflucht und die Weigerung vieler Unternehmen, überhaupt einen Tarifvertrag abzuschließen, sind die wesentlichen Gründe für die Zunahme von sogenannten Häuserkämpfen. Gleichzeitig haben sich – außerhalb des DGB – berufsständisch orientierte Gewerkschaften wie der Marburger Bund, die Fluglotsen und die Lokführer gebildet, die ihre Legitimation vor allem durch aggressive Streikaktionen nachweisen müssen. Schließlich hat in Europa seit 1980 die Zahl der Generalstreiks deutlich zugenommen, während die Häufigkeit von traditionellen Arbeitskämpfen um Lohn und Arbeitszeit zurückgegangen ist. Darin spiegelt sich einerseits die Schwächung gewerkschaftlicher Interessenvertretung in den Kernbereichen, andererseits die Notwendigkeit, gegen die neoliberale Politik der Regierungen – der Demontage des Sozialstaates, dem Abbau des Rentensystems, der Privatisierung von Post, Bahn und Telekommunikation – Widerstand zu leisten. Der Neoliberalismus und die Antwort der Gewerkschaften Im Verlauf der vergangenen 20 Jahre hat sich die Gewerkschaftslandschaft in Deutschland also dramatisch verändert. Zwar stieg die Zahl der Mitglieder der DGB-Gewerkschaften infolge der deutschen Einigung von etwa acht Millionen Anfang der 80er Jahre auf knapp zwölf Millionen Anfang der 90er Jahre. Danach aber begann der Abstieg: zunächst auf acht Millionen zur Jahreswende 2000 und schließlich auf gut sechs Millionen im Jahre 2011. Damit verringern sich die finanziellen Einnahmen der deutschen Gewerkschaften, die im internationalen Vergleich oftmals als sehr reich gelten. Kostenreduktion bedeutet Personalabbau, interne Rationalisierung, Rückzug aus der Fläche, der Betriebsbetreuung und aus politischen Feldern. Vor allem die Zahl der Sekretäre und Mitarbeiter des DGB wurde so reduziert. Seit den 90er Jahren haben sich – als Folge dieser Prozesse – die DGBMitgliedsgewerkschaften durch Zusammenschlüsse reorganisiert. Gab es Ende der 90er Jahre noch zwölf Einzelgewerkschaften (darunter schon Fusionen aus den 80er Jahren: IG Chemie mit IG Bergbau und Gewerkschaft Leder zur IGBCE; IG Bau, Steine, Erden mit IG Gartenbau und Landwirtschaft zu IG BAU; IG Druck und Papier mit Gewerkschaft Kunst zur IG Medien), hat sich deren Zahl inzwischen auf acht reduziert. Die Gewerkschaft Holz und Kunststoff ist in der IG Metall aufgegangen; in der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) vereinigten sich Transnet (früher GdED) und GDBA, eine Organisation des Beamtenbundes. 2001 gründete sich die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi als Zusammenschluss von fünf vormals selbstständigen Einzelgewerkschaften: der starken ÖTV, die 1999 noch 1,5 Millionen Mitglieder hatte, der Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen (HBV), der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) und der IG Medien. Dazu kam noch die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) mit rund 462 000 Mitgliedern (1999), die außerhalb des DGB stand. Zum Zeitpunkt der Fusion hatte Verdi 2,8 Millionen Mitglieder; inzwischen (2011) ist diese Zahl auf rund 2 Millionen gesunken (zum Vergleich: die IG Metall von 2,7 Millionen in 2001 auf 2,2 Millionen in 2011). Diese Reorganisation hat einerseits das alte Industrieverbandsprinzip, also das Prinzip der Branchengewerkschaft weitgehend aufgehoben; denn nunmehr bilden sich Gewerkschaftskomplexe, die viele Branchen in sich vereinen. Seitdem haben andererseits aber auch Streitigkeiten zwischen den Gewerkschaften über die Zuständigkeit für Tarifpolitik und Mitgliederwerbung zugenommen, da im Dienstleistungssektor – vor allem in der IT-Branche – produktionsbezogene Dienstleistungen enorm zugenommen haben. Dazu verteilt sich die Eigentumsstruktur großer Mischkonzerne über verschiedene Bereiche – von der Produktion über den Logistikbereich bis hin zu den Datenverarbeitungszentren. Industriegewerkschaften wie die IG Metall möchten daher ihre Zuständigkeit – gleichsam entlang der Wertschöpfungskette – auf diese Bereiche ausweiten und geraten dabei in Konkurrenz (und Konflikt) mit der Gewerkschaft Verdi. So werden dann Konkurrenz-, im Einzelfall sogar Feindbeziehungen zwischen Gewerkschaften aufgebaut. Der DGB, der eigentlich über die Macht verfügen müsste, in solchen Fällen als Schlichter bzw. als letzte Autorität zu agieren, steht dabei meist am Rande. Die Illusion der Synergie Die erwähnten Zusammenschlüsse wurden oftmals mit Hinweis auf mögliche Synergieeffekte begründet. Tatsächlich schwächen sie in der Regel – über Personalabbau und Kostensenkung – die Interessenvertretung, die Präsenz der Funktionärinnen und Funktionäre in den Betrieben wie in der Fläche. Diese Funktionäre leiden – vor allem dann, wenn sie hoch motiviert sind – unter zunehmendem Arbeitsdruck, aber auch unter den Niederlagen und Rückschlägen, die sie oftmals in den Betrieben bei Entlassungen, Betriebsstilllegungen, aber auch bei innerbetrieblichen Rationalisierungsmaßnahmen erleben müssen. Die strukturelle Macht der Gewerkschaften wurde auf diese Weise in der neoliberalen Ära massiv zurückgedrängt. Die Umverteilung von den Löhnen zu den Kapitaleinkommen, das Emporschnellen des deutschen Leistungsbilanzüberschusses seit der Einführung des Euro im Jahre 1999, die preislichen Wettbewerbsvorteile der deutschen Exportwirtschaft, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die Einführung eines großen Niedriglohnsektors – alle diese Merkmale eines erfolgreichen neoliberalen Regimes in der EU (und der Weltwirtschaft) sind zugleich Resultate geschwächter gewerkschaftlicher Macht. Der Verteilungsspielraum, also Produktivitätssteigerung plus Preissteigerung, wurde zwischen 1992 und 2010 – mit Ausnahme des Krisenjahres 2009 – niemals auch nur verteilungsneutral ausgeschöpft.
Diese Daten spiegeln schon die Veränderungen in der Tariflandschaft wider. Das „Geleitzugprinzip”, also die Tarifführerschaft durch die IG Metall, ist weitgehend aufgegeben.
Die Tarifbindung ist – mit sektoralen und regionalen Unterschieden – deutlich zurückgegangen; das Instrument der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Flächentarifverträgen wurde demontiert. Schließlich zeichnet sich die Lohnentwicklung seit 2000 durch eine negative Lohndrift aus, das heißt die effektiven Einkommen liegen deutlich unter den tariflich vereinbarten.
Auch bei der Arbeitszeit geht die Schere zwischen tariflich vereinbarter Wochenarbeitszeit (zwischen 37 und 39 Stunden) und der effektiven Arbeitszeit (41,2 bis 44 Stunden) immer weiter auseinander. Die Erinnerung an den großen Sieg der Gewerkschaften (IG Metall, HBV und IG Druck und Papier) im sechswöchigen Arbeitskampf um den Einstieg in die 35-Stunden-Woche im Jahre 1984 gerät dagegen immer mehr in Vergessenheit. Und innergewerkschaftliche Initiativen, die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung für die Gesellschafts- und Tarifpolitik zu reaktivieren, stoßen in der Regel bei den Pragmatikern des „Kerngeschäftes” – mit dem Argument „nicht durchsetzbar”, „nicht mobilisierbar” – auf kategorische Ablehnung.
In dieser Gesamtentwicklung zeichnen sich als Reaktion auf die Große Krise und die eigene Schwäche zwei grundlegende Veränderungen gewerkschaftlicher Tarifpolitik ab: Erstens: „Nicht mehr die Partizipation der Beschäftigten am scheinbar grenzenlosen wirtschaftlichen Wachstum, sondern die Beschäftigungssicherung unter dem Vorzeichen von Wachstumsschwäche und Rationalisierung bildete von nun an die Konstante der Tarifpolitik.” So schlug der IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel 1995 ein „Bündnis für Arbeit” vor. In Gesprächen mit Regierung und Arbeitgebern sei die Gewerkschaft bereit, moderate Lohnabschlüsse im Austausch gegen Beschäftigungssicherung anzubieten. Die Resultate der Tarifpolitik liegen durchaus auf dieser Linie. Zweitens: Die Lohnforderungen der Gewerkschaften müssen flexibel auf die Interessen der Unternehmen und Betriebe, also auf deren Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt abgestimmt sein, eine alte Forderung der Arbeitgeberverbände vor Tarifverhandlungen. Dieser „Wettbewerbskorporatismus” beinhaltet die Zustimmung der Gewerkschaften zu einer Öffnung der Tarifverträge, das heißt zu Vereinbarungen auf der betrieblichen Ebene, die die Unterschreitung von Tarifnormen ermöglichen. Durch solche Vereinbarungen werden auch flexiblere Arbeitszeiten (beispielsweise durch sogenannte Arbeitszeitkonten) ermöglicht. Dass dabei die Zustimmung durch die Gewerkschaften erfolgen muss, wurde schon als großer Erfolg gefeiert! Auf jeden Fall wird auf diese Weise die Bedeutung und Macht der Betriebsräte für die Gewerkschaften noch einmal erheblich aufgewertet, während das zentrale Instrument gewerkschaftlicher Interessenvertretung (und Macht) im „dualen System” noch weiter abgewertet wird. Die Bezie- hungen zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften sind seit dem Betriebsrätegesetz von 1920 umstritten und umkämpft: Sollen sich die Betriebsräte den Gewerkschaften unterordnen oder erkennen die Gewerkschaften deren durch das Gesetz vorgegebene Selbstständigkeit an und kämpfen darum, bei den Wahlen die Mehrheit im Betriebsrat für die Gewerkschaftsliste zu erringen? Wie auch immer die Antwort lautet: Gleichwohl hätten sich Gewerkschaftsführer der älteren Generation, denen die Machtpositionen der großen Betriebsräte und ihre oftmals extrem sozialpartnerschaftliche – auf das „Wohl” des Betriebes (so die gesetzliche Vorgabe) bezogene – Orientierung wohl bewusst war, niemals vorstellen können, dass ihre Gewerkschaft letztlich auf Servicefunktionen für Betriebsräte reduziert werden könnte. Ein anderes Verständnis von Mitbestimmung Die ideologische und pragmatische Akzeptanz des „Wettbewerbskorporatismus” – als eine Art Überlebensstrategie der Gewerkschaften, die sich an die neuen neoliberalen Verhältnisse anpassen – veränderte zugleich das Verständnis von Mitbestimmung, das die Gewerkschaftsprogramme – und das Selbstverständnis der deutschen Gewerkschaften nach 1945 – zentral bestimmt hatte. Das Verhältnis der Gewerkschaften zu den verschiedenen Bundesregierungen – auch in den Zeiten der konservativ-liberalen Koalition unter Helmut Kohl (CDU) – wurde stets durch deren Umgang mit den zentralen Institutionen des deutschen Systems der Mitbestimmung bestimmt. Und auch auf der europäischen Ebene und im Europäischen Gewerkschaftsbund haben sich die DGB-Gewerkschaften stets für die Erhaltung und Erweiterung des „deutschen Modells” stark gemacht. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrungen der deutschen Gewerkschaften war die Mitbestimmung im Betrieb und im Unternehmen stets als Element von „Wirtschaftsdemokratie” verstanden worden. Diese wurde in frühen Programmen (1949) noch mit der Vergesellschaftung relevanter Teile der Wirtschaft verbunden und bezog sich stets auf den Grundgedanken, dass die Demokratie nur dann gesichert werden kann, wenn sie – über die formelle politische Demokratie hinaus – auch auf die Wirtschaft übergreift.
Zwar wurde der Vorteil der Mitbestimmung immer wieder betriebswirtschaftlich und sozialpolitisch – mit Hinweis auf die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitalismus und die Sozialverträglichkeit des Beschäftigtenabbaus als Folge der Krisen bei Kohle und seit den späten 50er Jahren – begründet; dennoch wurde in den Programmen des DGB immer wieder der Zusammenhang von politischer und wirtschaftlicher Demokratie als unabdingbares Merkmal des „sozial regulierten Kapitalismus” hervorgehoben. Subalterne Anpassung Anders 1998: Damals wurde dem Bundespräsidenten der Abschlussbericht einer gemeinsamen Kommission der Bertelsmann-Stiftung und der Hans- Böckler-Stiftung des DGB zur „Mitbestimmung” überreicht. Der Sprecher der Gewerkschaftsstiftung feierte den Bericht als ein historisches Ereignis: „Wir verfügen mit der Mitbestimmung über ein hervorragendes Instrumentarium, das durch Konsensbildung die kooperative Modernisierung der Wirtschaft ermöglicht, indem es soziale Interessen in ökonomische Entscheidungen einbaut.” Die Mitbestimmung, so fügte der damalige DGB-Vorsitzende Schulte hinzu, ist für Arbeitgeber wie Gewerkschaften ein „Standortvorteil”. Die Philosophie dieses Berichtes wird schon am Anfang in einem Satz zusammengefasst: „Am Ende der 90er Jahre ist Mitbestimmung in keiner denkbaren Zukunft mehr als etwas anderes [zu begreifen, d. Verf.] als ein Element der einzelwirtschaftlichen Leitungs- und Entscheidungsstruktur (corporate governance) von am Markt konkurrierenden Unternehmen, unter Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse aller Beteiligten. In dieser Eigenschaft wird Mitbestimmung heute auch von Arbeitgeberseite nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt.”
Die Gewerkschaften akzeptierten so eine subalterne Rolle für die Herstellung der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen auf dem Weltmarkt, was ihnen im folgenden Jahrzehnt auch hervorragend gelungen ist. Solches Verhalten wird nicht nur von Arbeitgebern und Regierung anerkannt, sondern auch für diejenigen Arbeitnehmer belohnt, die an dieser Prosperität der Unternehmen bzw. der exportorientierten Branchen teilhaben. Langfristig trägt diese Politik der Anpassung, die sich mit dem Begriff der Modernisierung verkleidete, allerdings zur Schwächung der gesamten Gewerkschaftsbewegung bei, unter anderem durch die zunehmende Spaltung zwischen den relativ privilegierten Oberschichten und den – durch Prekarität und sozialen Abstieg bedrohten – Unterschichten der Arbeiterklasse. Die Partner dieses Bündnisses mit dem Kapital übernehmen freilich eine zusätzliche Disziplinierungsfunktion: Sie wirken in ihren Gewerkschaften, aber auch in den Betriebsräten und in den Betrieben, auf die Zähmung bzw. die Marginalisierung der linken Kräfte hin, die die Interessenvertretung einerseits von der (materiellen wie politischen) Basis des Gegensatzes von Kapital und Arbeit ableiten und andererseits die Fähigkeit zum Arbeitskampf und zur Wahrnehmung eines erweiterten politischen Mandats als zentrale strategische Eckpunkte gewerkschaftlicher Politik begreifen. Vor allem in den Vorständen der Gewerkschaften und bei gewerkschaftseigenen Think Tanks (wie der Hans-Böckler-Stiftung) waren diejenigen Kräfte konzentriert, die diese subalterne Anpassung und die darin eingeschlossene „Entideologisierung” der Gewerkschaften, das heißt letztlich den Abschied vom Klassenkampfdenken, als notwendige Modernisierung im Zeitalter der Globalisierung und nach dem Ende der Systemkonkurrenz betrieben. Sie bestimmten auch weitgehend die Tendenz des neuen Grundsatzprogramms des DGB, das im November 1996 in Dresden verabschiedet wurde. Gewerkschaftliche Erneuerung im Zeichen der Krise Immerhin werden nun – im Kontext der anhaltenden Krise – wieder Signale einer Revitalisierung der Gewerkschaften zur Kenntnis genommen. „Die Gewerkschaften melden sich zurück” – so Hans-Jürgen Urban, Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der IG Metall, im Vorwort zu einer soziologischen Studie über Strategic Unionism aus der Universität Jena.
Das geforderte Organizing wird dabei keineswegs als bloße Ergänzung bestehender Werbestrategien begriffen. Erfolgreiche Projekte organisieren oftmals neue Gruppen der Lohnabhängigen – vor allem in den prekären Randsegmenten des Arbeitsmarktes wie Migranten, Frauen und Jugendliche – und sie verändern Praxisformen gewerkschaftlicher Interessenvertretung; denn immer wieder sind militante Formen des Protestes, des Arbeitskampfes, der Öffentlichkeitsarbeit, der Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen sozialen Bewegungen (beispielsweise gegen Rassismus) die Voraussetzung dafür, dass diese Gruppen für ihre elementaren politischen und sozialen Rechte überhaupt mobilisiert werden können. Dabei wird deutlich, dass die „Erneuerung” im Kontext eines social movement unionism auf ganz neue Strukturen und unterschiedliche Organisationsmuster treffen muss: relativ verfestigte Muster in den Kernbereichen der industriellen Produktion auf der einen und „weiße Flecken” im Dienstleistungsbereich, in dem Strukturen von Interessenvertretung und Organisation teilweise neu aufgebaut werden müssen, auf der anderen Seite. In diesen unterschiedlichen sozialen und kulturellen Welten bzw. Milieus verbergen sich freilich auch Entfremdungs- und Konfliktpotentiale zwischen den Gewerkschaften bzw. zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen, die ihrerseits kaum noch im strategischen Rahmen einer allgemeinen Vertretung der Interessen der Lohnarbeiter zusammengefasst werden können. Und dennoch: Ganz zweifellos haben die Gewerkschaften in Zeiten der Krise an Anerkennung gewonnen. Bei Meinungsumfragen ist der Anteil derjenigen gestiegen, die die Notwendigkeit der Gewerkschaft als Institution des sozialen Schutzes, ihre Rolle als Anwalt von sozialer Gerechtigkeit anerkennen. Trotzdem hat sich die für die Epoche charakteristische Konstellation der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen und der daraus abgeleiteten Machtposition der Gewerkschaften im Verhältnis zu dem Klassenprojekt „Neoliberalismus” bislang noch nicht grundlegend verändert. Gegen den „disziplinären Neoliberalismus“ In Deutschland hat sich die Politik des Neoliberalismus weniger durch Angriffe auf die institutionelle Macht der Gewerkschaften (soweit diese durch das Tarifvertragsgesetz sowie durch das Betriebsverfassungs- und Mitbestimmungsgesetz gesichert ist), sondern vielmehr als „disziplinärer Neoliberalismus” durchgesetzt, der sich überwiegend auf die „strukturelle Macht” der ökonomischen Prozesse – der Kapitalakkumulation, des Marktes und der Krisenprozesse – sowie auf die politische Macht des Staates stützt, der diese Marktprozesse flankiert. Diese Macht wirkt auch auf die Individuen disziplinierend, die sich an die Zwänge des Marktes – bei Strafe des individuellen Scheiterns bzw. des sozialen Abstiegs oder in Erwartung individueller Karrieren (nach oben) – anpassen müssen. Stephen Gill spricht daher von einer „disziplinierenden Praxis im Foucaultschen Sinne”, also einer Macht, die nicht vorwiegend über staatliche Repression, sondern in der Gesellschaft, in der Ökonomie, aber auch vermittels der medialen Ideologieproduktion permanent ausgeübt wird. Dieses Disziplinarregime wirkt übrigens auch über die Einbindung der Arbeiterklasse in die Geschäfte und die Risiken des Finanzmarktkapitalismus: durch private Verschuldung, ohne die der Konsumkapitalismus nicht zu funktionieren vermag – unter anderem beim Kauf von hochwertigen Konsumgütern (insbesondere Automobilen) oder beim Erwerb eines eigenen Hauses. Für die Gewerkschaften wird in solchen Zusammenhängen deutlich, dass ihr Zweck – die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnarbeit – in einer kapitalistischen Wirtschaft immer dem Hauptzweck, der Produktion von Profit auf der Basis des Privateigentums, untergeordnet bleibt. Sie können wohl zeitweilig Klassenkompromisse erzwingen und über den demokratischen Staat Einfluss auf Sozialgesetze, Formen der Wirtschaftsdemokratie, den Ausbau eines öffentlichen, „dekommodifizierten” Sektors der Wirtschaft nehmen. Gleichwohl – das ist eine der Lehren des 20. Jahrhunderts – bleiben solche Errungenschaften, die wesentlich mit der Politik der Sozialdemokratie verbunden sind, prekär; denn die Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen, darin eingeschlossen der Machtverlust der Arbeiterbewegung in den Kapitalmetropolen, und die Krisen der Kapitalakkumulation haben immer wieder solche Errungenschaften in Frage gestellt. In dem Maße nämlich, wie die Gewerkschaften ihre eigenen Existenz- und Handlungsbedingungen von einem funktionsfähigen und sozial regulierten Kapitalismus abhängig machen, werden sie den Charakter der Krise, die dem Übergang in eine Epoche der Austerität zugrunde liegt, niemals angemessen begreifen und politisch-strategisch beantworten können.

Auszug aus dem Buch:
Gewerkschaften in der Großen Transformation: Von den 1970er Jahren bis heute. Eine Einführung
2012, PapyRossa, 11,90€

Als Auszug auch erschienen 2 2013 in Blätter für Deutsche und internationale Politik

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Veröffentlich mit freundlicher Genemigung vom Autor





 
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