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Die Macht der Scham
11.07.2012 | 12:44 Uhr

Die Macht der SchamBei Newark schlug 1776 das englische Expeditionskorps die amerikanischen Aufständischen vernichtend. Deren Oberbefehlshaber George Washington traf am selben Tag eine erstaunliche Entscheidung. Er befahl Benjamin Franklin, dem ehemaligen Druckereiarbeiter und Mitverfasser der Unabhängigkeitserklärung, sich sofort nach Frankreich einzuschiffen, um Hilfe zu erbitten. Trotz Herbststürmen und britischer Seeblockade kam Franklin im Dezember in Nantes an. In Paris wurde er empfangen wie ein Prophet. Ihm gelang es in kürzester Zeit, vom französischen König die Entsendung eines Expeditionskorps, von Waffen und Geld für die bedrängten Aufständischen zu erwirken.

NUR LEERES GESCHWÄTZ? Eines Abends sass Benjamin Franklin im Restaurant Procope in der Rue de l’Ancienne-Comédie beim Nachtessen. Ein junger Mann zog ihn am Ärmel und beschimpfte ihn: «Sie werden hier gefeiert wie ein Heiliger, nur weil Sie die Menschenrechte erfunden haben. Ich aber sehe in Paris nur Elend, Erniedrigung und Hunger. Die Menschenrechte? Ein leeres Geschwätz!» Franklin drehte sich um und sagte: «Sie irren, junger Mann. Hinter diesen Rechten steht eine Macht, die grösser ist als alle Mächte der Welt: die Macht der Scham.» (Der junge Mann war der spätere Revolutionsführer Georges Danton.) Der Uno-Menschenrechtsrat trat am Montag, dem 18. Juni 2012, im Genfer Völkerbundspalast zu seiner 20. Session zusammen. Viele der Botschafterinnen und Botschafter schämten sich. Was war geschehen? Auf US-amerikanischen Druck hin hatte der Rat einen der schlimmsten Verächter der Menschenrechte in die strategische Schlüsselstellung des Vorsitzenden des Auswahlausschusses ernannt. Der Ausschuss hat die Aufgabe, die Sonderberichterstatter und die Mitglieder der Untersuchungskommissionen auszuwählen. Der Mann heisst Roberto Flores Bermúdez und ist Botschafter von Honduras.
Die prestigereiche Zeitschrift «Afrique-Asie», so etwas wie die Bibel der Intellektuellen der Dritten Welt, titelte: «Ein Faschist im Menschenrechtsrat». Die Genfer Tageszeitung «Le Courrier» schrieb Anfang Juni: «Vom Putschisten zum Hüter der Menschenrechte».

GLAUBWÜRDIGKEIT. Zur Erinnerung: Im Juni 2009 stürzte ein Militärputsch in Honduras den demokratisch gewählten Präsidenten Manuel Zelaya. Die Grossgrundbesitzer kehrten zurück und unterjochen wieder das Land. Oppositionelle Gewerkschafter, Priester, Studentinnen und Studenten werden ermordet. Zu den Putschisten gehörte Roberto Flores Bermúdez, ein schmächtiger, arroganter Mann. Er wurde Aussenminister, dann Botschafter in Genf. Der Uno-Menschenrechtsrat besteht aus 47 Staatsvertretern und soll die Einhaltung der Menschenrechte durch die 194 Mitgliedstaaten überwachen. Er hat keine Armee, keine wirtschaftlichen Sanktionsmittel. Seine Waffe ist die moralische Glaubwürdigkeit. Eine Hoffnung: das Erwachen einer Mehrheit der Mitglieder. Noch in dieser Session stimmen sie über den Antrag der lateinamerikanischen Gruppe ab, die Flores Bermúdez hinauswerfen will.


Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein neuestes Buch, «Wir lassen sie verhungern», wird auf deutsch am 10. September 2012 erscheinen.




 
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