Wie bedrohliche, schlafende Tiere liegen die drei israelischen Kriegsschiffe vor der Küste Gazas. Die Menge am Strand nimmt kaum Notiz. Arbeitslose Fischer hocken neben verrotteten Booten. Einige schwarzgekleidete, ältere Damen sitzen auf weissen Plasticstühlen auf der zerschossenen Quaipromenade. Jugendliche spielen barfuss und lärmig Fussball im heissen Sand. Ein paar Kinder planschen im braunen Wasser. Welle um Welle schlägt das Mittelmeer gegen die zerbombten Pfeiler des einst blühenden Hafens der Stadt.
LEIDENSDRUCK. Seit mehr als drei Jahren hält die israelische Armee das Ghetto von Gaza mit seinen anderthalb Millionen Menschen unter einer fast totalen Blockade. Bloss Grundnahrungsmittel des Uno-Welternährungsprogramms kommen bei Erez über die Grenze. Wenige Medikamente, kein Zement, keine Ersatzteile für irgendwelche Apparate. Ein elektrischer Zaun umschliesst das Ghetto, die Marine blockiert die Küste, und an der Landesgrenze zu Ägypten stehen israelische Kontrolltürme. Die israelische Blockade hat ein klares politisches Ziel: Am 25. Januar 2006 gewann die islamische Hamas-Bewegung die palästinensischen Legislativwahlen. Am 14. Dezember desselben Jahres kam es im Gazastreifen zu einem kurzen, blutigen Konflikt zwischen der Fatah, der Partei des ehemaligen palästinensischen Präsidenten Yasir Arafat, und der Hamas-Bewegung. Letztere gewann und übernahm die lokale Regierung. Daraufhin erklärte Israel den Gazastreifen zum «terroristischen Territorium». Die Blockade dient – aus israelischer Sicht – dazu, den Leidensdruck der Bevölkerung so sehr zu erhöhen, dass sie sich auflehnt und die Hamas-Regierung verjagt. Im Morgengrauen des 31. Mai 2010 fuhren fünf Schiffe mit Hilfsgütern und 732 Passagieren aus 50 Ländern unter irischer und türkischer Flagge von Zypern kommend Richtung Gaza. Der Konvoi war noch in internationalen Gewässern, als sich israelische Marinekommandos aus Hubschraubern auf das Flaggschiff «Mariv Marmara» abseilten. Sie erschossen zehn junge Passagiere und verletzten Dutzende andere schwer.
NEUE EPOCHE. Die französische Abendzeitung «Le Monde» macht eine auf den ersten Blick paradoxe Analyse: Mit der Ermordung der zehn Passagiere beginnt eine neue Epoche im Nahen Osten. Denn Israel muss gegen seinen Willen die Internationalisierung des Konflikts erdulden. US-Präsident Barack Obama fordert eine internationale Untersuchung – und wird sie durchsetzen. Er will die Region zur atomwaffenfreien Zone machen. Was bedeutet, dass Israel seine Arsenale für die internationale Kontrolle öffnen muss. Die Palästinenserinnen und Palästinenser ihrerseits haben praktisch die Kontrolle über ihren Befreiungskampf verloren. Ägypten diktiert der Fatah und der Hamas die Bedingungen für eine kommende palästinensische Einheitsregierung. Kurz: So fürchterlich die Tragödie im Mittelmeer ist, sie hat wieder Bewegung in die Sache Palästinas gebracht.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein jüngstes Buch, «Der Hass auf den Westen», erschien auf deutsch im Herbst 2009.
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