Es war ein dunkler Abend im vergangenen Dezember in Lyon (F). Bürgermeister und Sozialist Gérard Collomb hatte eine kleine Runde von Intellektuellen und Politikern zum Nachtessen ins «Chez Léon» eingeladen. Umberto Eco diskutierte mit meiner Frau Erica über italienische Kunstgeschichte. Der Europa-Abgeordnete José Bové erklärte mir die neue EU-Agrarpolitik … Stunden verspätet kam endlich der erwartete Gast: François Hollande, der Präsidentschaftskandidat der französischen Sozialisten.
LANGWEILIGER HOLLAND. Ich kenne Hollande seit unserer gemeinsamen Zeit bei der Sozialistischen Internationalen. Er ist ein kluger, gebildeter, humorvoller und übervorsichtiger Sozialdemokrat. José Bové und ich versuchten, ihn zu stellen. «Eine Milliarde Menschen leiden Hunger auf dieser Welt. Du musst für diese Opfer reden.» Hollande war nicht interessiert. Er wandte sich Collomb zu und diskutierte den Rest des Abends mit ihm über die Wahltaktik in den Arbeitervororten von Lyon. Dort richtet der rechtsextreme Front National von Marine Le Pen viel Unheil an. Der Abend in Lyon erhellt das Dilemma der französischen Sozialisten. In der ersten Runde der Wahlen, am 22. April, liegen nach gegenwärtigen Umfragen Nicolas Sarkozy und Hollande praktisch gleichauf. Die Entscheidung fällt im zweiten Wahlgang am 6. Mai. Und da braucht Hollande die Stimmen sowohl der vereinten Linken als auch der Wählerinnen und Wähler des Zentrums. Ein gewaltiger Spagat! Denn auf der linken Seite ist kometenhaft ein unerwarteter Kandidat aufgestiegen: Jean-Luc Mélenchon, ehemals sozialistischer Senator, 2008 Gründer der Linkspartei und heute Präsidentschaftskandidat der Linksfront. Ihr Rückgrat ist die Kommunistische Partei. Über Jahre hinweg serbelte sie dahin. Jetzt hat sie der radikale Antikapitalist Mélenchon zu neuem Leben erweckt. Bei den letzten Wahlen machte die kommunistische Kandidatin Marie-George Buffet weniger als 3 Prozent der Stimmen. Heute liegt Mélenchon in den Umfragen bei 14 Prozent (und damit knapp hinter Marine Le Pen vom Front National). Er stellt die richtigen Forderungen: Verstaatlichung der Grossbanken, internationale Solidarität, Abschaffung des Währungsfonds, Verbot von Massenentlassungen in der Industrie, massive Besteuerung von Grossverdienern. Was wird geschehen? Sarkozy, der «Präsident der Reichen», wird im zweiten Wahlgang wohl verlieren. Zugunsten des sympathischen, aber ziemlich langweiligen François Hollande. Jedoch: im Juni folgen die Parlamentswahlen. Und da wird der rhetorische Vulkan Jean-Luc Mélenchon rasante Fortschritte machen.
BÜRGERAUFSTAND. Sarkozy predigt eine strenge Sparpolitik, Hollande den Erhalt des Kapitalismus mit einigen kosmetischen Korrekturen. Mélenchon wirbt für einen neuen Weg, der Vorbild sein könnte für alle europäischen Nationen: Er fordert den «Bürgeraufstand», die Umverteilung des Reichtums und die Neugestaltung der Produktionsverhältnisse. Mélenchon ist die Hoffnung für Frankreich und Europa.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein jüngstes Buch, «Der Hass auf den Westen», erschien auf deutsch im Herbst 2009.
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