Fehlende Worte
Wolfgang Hien* über Slave Cubelas Geschichte der „Industriellen Leidarbeit“
Slave Cubela hat ein für linke Politik, sofern sie sich noch für einen Bezug zu den arbeitenden Klassen interessiert, fundamentales Werk vorgelegt. Sein Thema ist das Arbeitsleid – Cubela spricht von „Leidarbeit“ – und die Frage, inwiefern Leid sprachlich zu Wort kommt, verfremdet zu Wort kommt oder auch gar nicht zu Wort kommt. Cubela baut auf der Pathologie des Arbeitslebens auf und untergliedert in seiner Betrachtung die kapitalistische Industrialisierung in die Phasen Hochindustrialisierung, wissenschaftliche Fabrik und fluide Fabrik, welche unsere Gegenwart charakterisiert. Thematisiert wird nicht nur die deutsche Arbeitsgeschichte, sondern auch die anderer Länder, vornehmlich: USA, England und Frankreich. Die aktuelle Situation der globalen Arbeitsgesellschaft ist dramatisch: Viele hundert Millionen Menschen arbeiten und existieren unter unermesslichem Leid, jährlich ereignen sich nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation mehr als 300 Millionen Arbeitsunfälle, davon mehr als zwei Millionen mit tödlichem Ausgang.
Die vorliegende Studie verbindet Geschichte und Gegenwart. Sie ist weder eine rein historische noch eine rein soziologische Betrachtung. Der Autor arbeitet transdisziplinär, d.h. er nutzt kulturwissenschaftliche, sprachwissenschaftliche und philosophische Theorien, um sich seinem Thema zu nähern. So greift er eine empirisch gesättigte Überlegung des Anthropologen James Scott auf, nach der in herrschaftsförmigen Gesellschaften die subordinierten Klassen sich den von sozialen Eliten festgelegten normierten Verhaltensweisen, Sprachspielen und Narrativen zu unterwerfen haben. Scott nennt dieses Muster das offizielle Transkript. Die beherrschten Klassen erdulden dieses Transkript keineswegs passiv. Vielmehr bildet sich unterhalb der offiziellen Ebene eine zweite: die des verborgenen Transkripts, in dem Erfahrungen und andere Sichtweisen, Schmerz und Leid, Gefühle wie Zorn und Wut, aber auch andere Wertesystem ihren Ort finden und „zu einem eigenen Selbstbehauptungs-Diskurs amalgamieren“ (S. 51). Cubela entwickelt anhand einer Fülle von Quellen die These, dass körperliches Leid-Erleben sich mit tiefen psychischen Verletzungen verschränkt. Anders als bürgerliche Historiker:innen, die leider oftmals Thesen von „Opferhaltung“ und „Rentenneurosen“ reproduzieren, sieht Cubela eine auf Herrschaftspraktiken, Zumutungen, körperlichen und psychischen Leiderfahrungen sich aufschichtende Psychopathologie der Lohnarbeit, die bis in die Gegenwart wirkt, doch oftmals sprachlos bleibt oder sprachlich verzerrt wird. Ins Spiel kommen die vielfältigen Faktoren des Konsumismus und der fortlaufend Ideologien produzierenden Kulturindustrie. „Alles so schön bunt hier“ (Nina Hagen) lässt vergessen, dass die farbige Glitzerwelt uns von Unterdrückung und Schmerz ablenken, uns anästhetisieren soll. Cubela spürt all diesen Ebenen, Kontexten und Verweisungszusammenhängen nach. So zeigen sich Wellen der Versprachlichung verborgener Transkripte und Wellen der Verstummung, Wellen des Widerstandes und Wellen der Anpassung. Der Autor argumentiert, dass die Genese der fluiden Fabrik seit den 1980er Jahren eine Versprachlichung der Leiderfahrung als Ausgangspunkt von breitem, kollektivem Arbeiter-Widerstand erheblich erschwerte. Es habe sich eine Parzellierung und Zersplitterung der arbeitenden Klassen ergeben, verbunden mit einer Selbstdistanzierung der Arbeiter:innen von ihrer ehemaligen Klassen-Kultur, was einer Selbstdestruktion der Klasse gleichkomme.
Durch die Studie von Slave Cubela zieht sich als roter Faden die Problematisierung „des Umgangs der Arbeiter- und Unterklassen mit der gesellschaftlich vorhandenen sozialen Sprache“ (S. 51). Die dominierenden Klassen haben manipulative Sozialtechniken entwickelt, die unteren Klassen in einer Weise anzurufen, die ihnen ihre eigene Zustimmung zum Beherrschtwerden imaginiert. Dazu beigetragen hat nicht nur die Partizipation am Benefit der internationalen Arbeitsteilung, welcher zunächst der Arbeiteraristokratie und seit den 1960er Jahren auch breiteren Schichten der metropolitanen Arbeiterklassen zugute kam, was eine integrative private Glückskalkulation und eine Verengung der Arbeitskämpfe auf Lohn und Zeit ermöglichte. Zur Integration hat insbesondere auch die Atomisierung und Zerstörung der spezifisch proletarischen Sprache beigetragen: „Worterstarrung“ ist hier Cubelas Begriff. Das offizielle Transkript legt sich in den unterdrückten Klassen wie ein Panzer um die menschliche Existenz. Der Zugang bzw. die Verbindung von Sprache zum leiblichem Erleben wird blockiert. Arbeitsleid und Leidarbeit finden kaum noch einen sprachlichen Ausdruck. So konnte sich während des 20. Jahrhunderts „ein soziales Bündnis zwischen Arbeit und Kapital als Grundlage der produktivistischen Leistungsgemeinschaft“ anbahnen (S. 163). Die Arbeiterorganisationen waren zwar dem Leid der Arbeitenden gegenüber nicht blind und bemühten sich um ein gewisses Maß an Gesundheitsschutz, doch sie blieben „Gefangene des produktivistischen Dispositivs“ (S. 271). Doch im Zuge der 1968er Bewegung und der spontanen Streikwellen der 1970er Jahre schimmert immer wieder „ein kämpferisch-militantes Transkript der Arbeiter- und Unterklassen“ auf, das einen „neuen Wortergreifungsprozess einleitet und eine Humanisierung der Arbeit einfordert“ (S. 324). In der globalen Perspektive konstituierte sich ein fluides Proletariat, das sich in „Körper-Allianzen“ übersetzte, so z.B. in den Bewegungen des sogenannten Arabischen Frühlings oder in den Occupy-Wall-Street-Camps. In Cubelas Augen waren dies auch Versuche einer „Versprachlichung von Leid als Basis einer neuen emanzipativen Bewegung“ (S. 360). Anknüpfend an Judith Butler spricht Cubela vom „Eintritt des verleugneten Körpers in die politische Sphäre“ (ebd.), ein Phänomen, das auf der Ebene einer rein rationalen, vernunftbasierten Auseinandersetzung nicht zu begreifen sei.
Die neoliberale Gegenoffensive der herrschenden Klassen ließ nicht auf sich warten: eine Kombination neuer Herrschaftstechniken mit Digitalisierung und neuen Stufen der Arbeitsteilung. Cubela benennt neben der traditionellen, sozialdemokratisch integrierten Arbeiterschaft und dem fluiden internationalen Proletariat noch eine dritte Gruppe: das milliardengroße Heer der „überflüssigen Masse“, deren Angehörige jede noch so kleine Chance nutzen müssen, um sich und ihre Familien in den abgehängten Regionen im Modus der informellen Arbeit zu reproduzieren. Hier bringt die Studie eine Fülle von bedrückenden Beispielen aus allen Teilen der Welt. Ihnen ist eine Existenz auferlegt, die sich in einem Kosmos zwischen eruptivem Widerstand, brutalem Nihilismus und religiösem Fanatismus bewegt. So stehen wir im 21. Jahrhundert „nicht nur in einer zerklüfteten Welt voller Nuancen, Abstufungen und Brüche“, sondern in einer Welt „in unablässiger Bewegung: Was gestern noch galt, kann morgen schon Vergangenheit sein“ (S. 394). Die Zersplitterung der Arbeitenden ist ein Merkmal der neuen Proletarisierung mit Phänomenen von Clusterung und Spaltungen, die sich quer über den Globus erstrecken und mitten durch unser Land gehen. Zu konstatieren sind Prozesse einer extremen Polarisierung: Es gibt zumindest temporär schnell aufsteigende Schichten im IT-Sektor, in der industriellen Entwicklung, auch in der Logistik, sofern es die zumindest temporär erfolgreichen BWL-Start-Ups betrifft, und es gibt eine wachsende Unterschichtung durch vorwiegend migrantische Dienstleistungsarbeiter:innen in der Plattformökonomie, in der Gastronomie, in der Pflegearbeit und in der Massenarbeit der Logistik. Zu konstatieren sind gleichwohl auch Prozesse der Überlagerung von Qualifizierung und Dequalifizierung, von Aufstieg und Abstieg, insbesondere dann, wenn Menschen ihre Leistungsgrenzen übersteigen, an Erschöpfungssyndromen leiden und erkranken. Chronische Erkrankungen nehmen zu, insbesondere psychische, psychosomatische und durch Überforderung erzeugte somatische Rücken- und Herzerkrankungen und dies zunehmend auch bei bessergestellten Erwerbstätigen. Die Verdichtung und Intensivierung der Arbeit findet auf allen Ebenen der Produktions- und Dienstleistungsarbeit statt. Cubelas Befürchtungen hinsichtlich einer „Selbstauflösung der Arbeiterklasse“ (S. 421) müssen erstaunen, weisen doch viele neueren Diskussionsbeiträge, so etwa das von der Buchmacherei verlegte Buch „Spuren der Arbeit“ (Berlin 2021, siehe express 12/2021), in eine Richtung, die sich als Neukonstitution der Arbeiter:innen-Klasse deuten ließen. Dafür sprechen nicht zuletzt auch viele Befunde in Cubelas Studie selbst. So relativiert der Autor seine Skepsis, indem er am Ende seiner Studie anmerkt, dass diese nicht als Abgesang auf das Proletariat missverstanden werden sollte. Denkbar seien neue „Arbeiterbewegungen der Vulnerabilität“ (S. 427), welche den Produktivismus und die Arbeitsethik der Stärke und Unverwundbarkeit hinter sich lassen.
In Cubelas Text schimmert eine Skepsis gegenüber politischen und sozialen Rechten durch, an denen sich Kämpfe der Arbeitenden gegen unmenschliche Bedingungen orientieren könnten. Das ist insofern nachvollziehbar, als die Erfahrung zeigt, dass derartige Rechte meist am Werkstor enden und zudem die Sozialstaatsillusion verstärken, d.h. zumeist eher zur Integration in die bürgerliche Gesellschaft beitragen und den Gedanken des Klassenkampfes unterminieren. Doch das muss nicht so sein. Die Thematisierung der Menschenrechte kann auch systemsprengend wirken. Die schrecklichen Erfahrungen, welche die Menschheit mit dem Nationalsozialismus machen musste – das mörderische Regime der millionenfachen Zwangsarbeit bis zur Vernichtung durch Arbeit und den fabrikmäßigen Massenmord –, bildeten den Hintergrund für die Verfassung der Weltgesundheitsorganisation 1947 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948. Einzufordern gilt, basierend auf dem Aufklärungsgedanken, die „humanitas“, die jedem Menschen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Weltanschauung, das gleiche Recht auf Menschenwürde zuerkennt. Aus menschenrechtlicher Sicht wird zudem ein bestmöglicher Gesundheitszustand als fundamentales Grundrecht jedes menschlichen Wesens angesehen, unabhängig von seiner wirtschaftlichen und sozialen Stellung. Nicht eine „Pflicht zur Gesundheit“, sondern ein Recht auf Gesundheit, genauer: ein Recht auf Gesundheitsschutz, sollte eine gesellschaftliche Leitorientierung sein. Sie fand ihren Niederschlag im Sozialpakt der Vereinten Nationen von 1966, worin (in Artikel 12) „das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit“ verankert ist. Ich meine, dass dieser Menschenrechtsbegriff ein notwendiges und weiterführendes Mittel der Wortergreifung sein kann. Das Menschenrecht auf humane Arbeitsbedingungen kann zum Anker im Massenbewusstsein werden. Das zeigen vielfältige Erfahrungen, nicht zuletzt die Auseinandersetzungen um Gesundheitsschutz bei Alstom Power in Mannheim. So verankert, kann der Gedanke der Menschenrechte einen Nährboden für eine beißende Kritik an der Leidarbeit bieten.
* Wolfgang Hien…
Slave Cubela: Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust. Industrielle Leidarbeit und die Geschichte der modernen Arbeiterklassen. Münster, Verlag Westfälisches Dampfboot, 2023. ISBN 978-3-89691-070-7. 424 Seiten, 48,00 Euro.
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Das Interview erschien in Telepolis in Kooperation mit dem US-Medium Democracy Now. Hier geht es zum Original.
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